AM ANFANG WAR DAS FEUER - ABER: ALLER ANFANG IST SCHWER

Fangen wir mit Opium an. Ich möchte wissen, sinniert Lee Child zu Beginn seines lesenswerten Essays The Hero, wer es zuerst ausprobiert hat. In Wahrheit will der Autor aber mehr wissen - viel mehr. Child möchte wissen, wer alles zuerst ausprobiert hat. Er möchte auch wissen, wie viele bei diesen Versuchen nach dem Motto Hey, lasst uns mal graben und die Wurzel, die wir finden, essen gestorben sind. Ruhelosigkeit und eine unstillbare Neugier zeichnen, so Childs Resümee, unsere Spezies offenbar vor allen anderen aus; man könnte vielleicht noch die Risikobereitschaft hinzufügen. Den Ergebnissen, die diese menschlichen Eigenschaften in längst vergangenen Zeiten lieferten, wollten wir nun an unserer Schule konkret nachspüren. Unter der Federführung von Herbert Selig hatten er, Kristina Meyer und Alexander J. Wahl den Museumspädagogen Felix Schmeußer eingeladen, um mit ihren sechsten Klassen das Hightech der Vergangenheit kennen zu lernen. Es wurden ereignisreiche, überraschende und außergewöhnliche Geschichtsstunden.

Fangen wir mit der Speerschleuder an. Sich einen Stecken zu suchen, ihn anzuspitzen und dann auch mal zu werfen, das scheint noch relativ naheliegend und nachvollziehbar. Aber wer kam auf die Idee, ein weiteres Stück Holz zu bearbeiten, es mit einem Nocken zu versehen, den Speer an diesen Nocken zu legen und ihn dann zu schleudern? Zumal der Erfolg dieser Technik erst einmal alles andere als offensichtlich ist oder auch nur wahrscheinlich erscheint. Erfahrungen dieser Art machte an diesem Tag der Sechstklässler Niklas, der zwar vor dem geschleuderten Speer eines Kameraden sicher war, aber von der versehentlich gleich mitgeschleuderten Speerschleuder touchiert wurde. Die Speere flogen kreuz und quer auf dem Fußballplatz, nicht wenige Schleudern flogen hinterher - und alles flog nicht allzu weit. Es braucht viel Übung, um dieses scheinbar so einfache Gerät zu beherrschen und offenbar waren unsere Ahnen großteils erfolgreich - sonst wären wir alle nicht da. Auf bis zu 150 Stundenkilometer kann ein mit der Speerschleuder geschleuderter Speer geschleudert werden - auch die Reichweite wird verdoppelt und durch die erhöhte Geschwindigkeit des Geschosses erhöht sich dessen Durchschlagskraft - was für die Jagd wichtig ist. So überwindet man die die Grenze, die die Geschwindigkeit des nach vornegeführten Armes dem Speer setzt. Wenn man das im Buch liest und die Illustrationen betrachtet, klingt das nachvollziehbar und völlig logisch. Konkret ist das eine ganz andere Geschichte. Oder, sagen wir mal so: die Wildtiere Haßfurts waren an diesen Tagen sicher vor uns und das lag nicht nur daran, dass die Spitzen der Speere - selbstredend - stumpf waren.

Natürlich kann (und sollte) man das Ganze auch nicht zu hoch hängen. Sicherlich versuchten wir uns am Feuermachen mit Hilfe eines Bogens, wir nutzten Feuersteinklingen und erwarben Respekt vor diesem so scharfen wie zerbrechlichen Werkzeug, wir nestelten uns aus Muscheln und Bast Schmuck zusammen und bemalten unsere Gesichter mit mineralischen Farben (deren Bindung mit Wasser, Blut, Eiweiß oder Urin ersparten wir uns allerdings). Doch all das geschah auf einem wohlgemähten Fußballplatz, umgeben von einer Tartanbahn und solide gepflasterten Wegen. Man kann so vielleicht flüchtig in eine fremde Welt schmecken, ein kurzer Schwall Gewürzduft auf einem orientalischen Markt, dann geht man weiter, ahnt und vergisst. Diese ferne Welt sah Menschen, die wir mit exotistischen Schauder betrachten, ehe wir weiterwischen. Menschen, die uns ferner sind als virtuelle Kunstprodukte unserer Zeit. Weit entfernt eine Welt, in der die Natur primär der Feind war, das Leben voller Unbill und Gefahren, eine Welt, in der jeder Fehler zum Tode führen konnte. Und doch, schrieb Jean Clottes, Generalkonservator des nationalen Kulturerbes in Frankreich und Spezialist für Höhlenmalerei, „besaß der Mensch, also Homo sapiens, bereits dasselbe Nervensystem wie heute, dasselbe Abstraktionsvermögen, dieselbe Fähigkeit zur Synthese. Diese Leute waren kein bißchen primitiv, sie gehörten zu unserer Spezies und waren Menschen wie wir. Natürlich haben sie die Welt anders gesehen, aber ihr Weltbild war deshalb nicht unbedingt weniger wertvoll.“

Nur etwa durchschnittlich 1500 Menschen bevölkerten Europa in der Zeit zwischen 42000 und 33000 vor Christus, fanden Forscher der Universität Köln heraus. Deren Nachkommen sind wir. Wir sind das Produkt einer langen Reihe von Müttern, die mindestens ein Kind zur Welt gebracht haben, das allen Widrigkeiten zum Trotz überlebt hat. Wir sind die Nachkommen der Ängstlichen, der Vorsichtigen, derjenigen, die vielleicht sagten Nö, ich habe grad keinen Hunger, iss nur du erstmal von den Pilzen; derjenigen, die sich dafürentschieden, an der Horde in der Ferne vielleicht erst einmal unbemerkt vorbeizuziehen, anstatt allzu naiv und allzu laut auf sich aufmerksam zu machen.

Neben all den Gerätschaften und der kundigen Anleitung brauchte man allerdings noch eines an diesem Tag, nämlich Biss. Ohne Durchhaltevermögen funktioniert nichts und da schnitten unsere Schülerinnen und Schüler großartig ab. Beim Feuermachen mit Hilfe des Bogens beispielsweise sind der Fehlversuche mehr als der Erfolge. Das Stöckchen, das sich in einer Kuhle im Holz drehen soll, fällt um, die Bogensehne rutscht ab oder man führt den Bogen hin und führt ihn her, aber da raucht nichts, weil die Geschwindigkeit oder irgendetwas anderes nicht passt. Dass man noch wenig gewonnen hat, wenn es dann einmal zu stinken und zu räucheln anfängt, das sagten wir den KIndern zu diesem Zeitpunkt mal besser nicht. Doch vielleicht wären sie selbst darauf gekommen und hätten schließlich tatsächlich die weiteren Schritte entdeckt, gemeistert und Feuer entzündet. Durchhaltevermögen, Geschicklichkeit und Phantasie - die ersten begannen bereits, mit trockenem Laub zu experimentieren, das rund um die Kokelstelle platziert wurde - all das konnte man an diesem so ereignis- wie lehrreichen Herbsttag hier erleben. Keine schlechten Eigenschaften - auch für die Herausforderungen unserer Tage.

Alexander J. Wahl - erstellt mit Hilfe von NI (Natürlicher Intelligenz)