MATHEMATIK UND KONKRETE KUNST

Ein ungewöhnlicher Wettbewerb am RMG liefert faszinierende Resultate

Ein Quadrat. Die Farben blau und rot. Wesentlich mehr Blau, das sieht man auf den ersten Blick. Der Bildtitel „Blau-Rot 3:1“ verrät das exakte Verhältnis der Farben zu einander. Aus der blauen Fläche löst sich ein quadratischer Teil. Disloziert. Nur noch eine Ecke, ein Punkt, die geringstmögliche Fläche berührt das große Blau. Ist hier ein Fall festgehalten, ist hier Bewegung eingefroren, in unendlich kurzer Zeit erstarrt? Der vollständige Titel dieses Kunstwerks: „Blau – Rot 3:1, 1/48 Blau bewegt“.

Ein Rechteck. Geteilt in acht Quadrate gleicher Größe. Gemusterte Quadrate. Karos, Punkte, florale Motive. Jedes Quadrat beinhaltet, an jeweils unterschiedlicher Stelle, ein dreieckiges Stück eines anderen als integralen Teil. Der vollständige Titel dieses Kunstwerks: „Patchwork 1/8 vertauscht“.

Sechs Quadrate formen ein Rechteck. Die Quadrate sind offensichtlich aus jeweils vier rechtwinkligen Dreiecken zusammengesetzt – dieser Akt des Zusammenfügens ist hervorgehoben durch die schwarzen Linien, gebildet durch den Hintergrund, der an den Grenzen der von einander Millimeter entfernt abgesetzten Figuren durchscheint. Gepunktete Muster, Zebramuster, schillernde Schuppen. Der vollständige Titel dieses Kunstwerks: „Schuppen und Fell 1/3:2/3“.

Ein Quadrat, aus sechsundreißig Teilquadraten geformt. Wie auf einem Schachbrett wechseln helles und dunkles Grün. Die zentralen vier Quadrate sind anders, zweigeteilt, rötlich schimmernde Dreiecke, ein Punkt in der Mitte. Ein Windrad? Ein Wirbel? Der vollständige Titel dieses Kunstwerks: „Blumenwiese – 1/18 blüht auf“.

Strenge Ordnung in der Mitte. Ein lila Quadrat wird von einem roten, viergeteilten Rahmen umgeben, der wiederum gerahmt ist, Quadrate in hellerem Blau. Doch an den Rändern eine Art geometrisches Zerfasern, zentrifugales Wegschleudern dunkler blauer Quadrate. Regelmäßigkeit im Unregelmäßigen, Geometrie im beginnenden Chaos. Der vollständige Titel dieses Kunstwerks: „4,5 rosa zu 1,5 lila blau weg bewegt“.

 

Wir haben soeben Kunstwerke von Camille Graeser, Valentin Schwinn, Amelie Vollweiter und Nina Kaffer beschrieben. Camille Graeser ist einer der Großen der Konkreten Kunst. Schwinn, Vollweiter und Kaffer sind Schüler der 6. Klassen am Regiomontanus-Gymnasium.

Dass man am Regiomontanus-Gymnasium in Lehre und Schulleben gerne auch den weniger betretenen Pfad geht, ist allgemein bekannt. Mathematik und Kunst zusammenbringen – von diesem Ansatz Camille Graesers ließen sich Schülerinnen und Schüler zweier sechster Klassen im Rahmen eines schulinternen Wettbewerbs anregen. Für den Schweizer Künstler und Vertreter der Zürcher Schule der Konkreten stellten Mathematik und Kunst keine Gegensätze dar – im Gegenteil. „Er war überzeugt, dass geometrische Formen klingen können wie Musik, dass sich farbige Quadrate in einen flotten Rhythmus bringen lassen oder schnöde Rechtecke nichts anderes als optische Musik sind“, schrieb Adrienne Braun dereinst angesichts einer Ausstellung in Stuttgart.

Graesers Werk „Blau – Rot 3:1, 1/48 Blau bewegt“ bildete nun den Ausgangspunkt für einen künstlerischen Aufbruch in die Welt der Brüche. Die Schüler malten, schnitten, klebten, zeichneten am Computer. Die Mathematik, ein allgemein als „trocken“ verschrieenes Fach, erwachte zu farbigem Leben. Allgemeine Begeisterung angesichts der kreativen Schöpfungsakte war selbstverständlich und inklusive. Aufgemerkt: wir reden hier von Unterricht, wir reden hier von Schule, wir reden hier von einem Fach, das nicht wenige zu ihrem Lieblingshassobjekt auserkoren haben.

Keines der oben beschriebenen Kunstwerke ist ohne mathematischen Hintergrund, doch keines wirkt starr. In jedem scheint das Chaos gebändigt, scheint Ordnung hineingetragen in eine sonst unbegreifliche Welt. Man nimmt diese Werke der Sechstklässler fast ehrfürchtig in die Hand, dreht sie vorsichtig und liest die auf den Rückseiten erläuterten mathematischen Konzepte, die hier so eindrucksvoll visualisiert wurden. „Es heißt so, weil insgesamt 8/64 = 1/8 vertauscht worden sind. Wenn man alle Achtel in ihr entsprechendes Feld verlegt, ergibt das acht ganze Quadrate, die sich zu einem Patchworkmuster formen“, schreibt Valentin Schwinn, einer der Preisträger bei diesem Wettbewerb, ehe er hinzufügt: „Man könnte sie aber auch noch zu einem ganzen bunten Quadrat zusammenpuzzeln -> 1/8.“ Kann man das Bruchrechnen noch schöner erlernen?

Alexander J. Wahl